Die aktuelle Wettbewerbssituation des Schienenpersonenfernverkehrs
Erstellt am: 29.07.2021 | Stand des Wissens: 29.07.2021
Synthesebericht gehört zu:
Ansprechperson
Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Institut für Volkswirtschaftslehre (ECON), Prof. Dr. Kay Mitusch
Seit der Bahnreform im Jahr 1994 gilt in Deutschland der freie Netzzugang (open access) für den gesamten Schienenverkehr. [ENeuOG] In- und ausländische Eisenbahnverkehrsunternehmen können gegen Entrichtung entsprechender Trassenpreise an das zuständige Eisenbahninfrastrukturunternehmen (in der Regel die DB Netz AG) die Berechtigung erwerben, eine bestimmte Strecke im Schienennetz zu einer bestimmten Zeit zu befahren (sogenannte Trasse). Die Bundesnetzagentur überwacht die Höhe der Trassenpreise und die diskriminierungsfreie Vergabe der Trassen.
Seither hat sich der intramodale Wettbewerb auf der Schiene in den verschiedenen Schienenverkehrsmärkten unterschiedlich entwickelt. Im Schienengüterverkehr ist der Anteil der DB inzwischen auf unter 50 Prozent der Verkehrsleistung gefallen. Im Schienenpersonennahverkehr (SPNV), wo die Leistungen stark subventioniert und regional ausgeschrieben werden, hat sich ein Ausschreibungswettbewerb entwickelt; 2019 betrug der Anteil der Wettbewerber 28 Prozent der Verkehrsleistung. Es gibt allerdings keine eigenwirtschaftlichen Angebote in Konkurrenz zu den subventionierten Angeboten des SPNV, obwohl diese rechtlich möglich wären. [BNA20]
Als Unterscheidung zwischen Fern- und Nahverkehr gilt die Grenze von 50 Kilometern Distanz oder einer Stunde Fahrzeit. [PBefG12, § 8 Abs. 1] [RegG, §2] Die öffentlichen Aufgabenträger des SPNV beziehen jedoch auch einige weitere regionale Verbindungen in die Ausschreibungsverkehre mit ein, weil sie der Meinung sind, dass dort eigenwirtschaftliche Angebote nicht möglich wären oder ihren Vorstellungen von Angebotsdichte und -qualität nicht entsprechen würden, und weil das mit den Regionalisierungsmitteln zur Verfügung gestellte Geld ausreicht, um auch solche Bestellungen zu ermöglichen. In der statistischen Klassifikation ist man dazu übergegangen, alle Verkehre, die von Aufgabenträgern des SPNV bestellt sind, als Nahverkehre (eben SPNV) einzuordnen. [APS20] Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Marktregime der Ausschreibungsverkehre faktisch in den Fernverkehr hineinragt. Auf einigen Relationen, wie zum Beispiel Hamburg - Bremen oder Hannover - Bremen, machen sich DB Fernverkehr AG und subventionierter, langlaufender SPNV im jeweils zweistündigen, alternierenden Rhythmus direkte Konkurrenz beziehungsweise teilen den Markt so untereinander auf.
Ansonsten wird der Schienenpersonenfernverkehr (SPFV) eigenwirtschaftlich, das heißt unsubventioniert, angeboten und es dominiert nach wie vor die DB Fernverkehr AG mit einem Marktanteil von über 99 Prozent. [MPK17] Derzeit ist der einzige Konkurrent im SPFV die FlixMobility GmbH mit den Verbindungen Berlin - Stuttgart, Berlin - Köln sowie Hamburg - Köln. [Flix20]
Der intermodale Wettbewerb im Personenfernverkehr kann den fehlenden intramodalen Wettbewerb im SPFV teilweise ersetzen. Wettbewerbsdruck wird durch den inländischen Luftverkehr, den Fernbusverkehr sowie den Pkw ausgeübt. Abbildung 1 zeigt die Entwicklung der Marktanteile der verschiedenen Verkehrsträger im inländischen öffentlichen Personenfernverkehr. Der Anteil des inländischen Luftverkehrs am Modal Split nahm in Folge der Liberalisierung des Luftverkehrsmarkts im Jahr 1997 zunächst stark zu, woraufhin der Anteil des Schienenverkehrs entsprechend sank. In jüngerer Vergangenheit nimmt der Marktanteil des inländischen Luftverkehrs wieder ab. Der Anteil der Bahn am Modal Split ist seit 2012 um circa sieben Prozent auf 77 Prozent gesunken. Dies ist vor allem mit der Liberalisierung des Fernbusmarktes im Januar 2013 zu begründen. Das Fahrgastaufkommen der Fernbusunternehmen stieg von 2,5 Millionen im Jahr 2012 auf 23,9 Millionen im Jahr 2016. Im Jahr 2015 stabilisierte sich der Marktanteil des Fernbusses und sinkt wieder leicht bis auf 11% im Jahr 2019. Dies ist unter anderem auf die Fusionswelle und Konsolidierung im Fernbusmarkt zurückzuführen.
![Abb. 1: Modal Split des inländischen öffentlichen Personenfernverkehrs nach Verkehrsaufkommen [Eintrag-Id:537620] modal_split.png](/servlet/is/538910/modal_split.png)
Die verschiedenen Verkehrsmodi weisen jedoch unterschiedliche Eigenschaften auf, so dass ein intermodaler Wettbewerb in der Regel schwächer ausgeprägt ist als es ein intramodaler Wettbewerb auf der Schiene wäre. [Zepp08, S.39] So verfügen nicht alle Personen über einen Pkw oder Führerschein oder sind bereit, einen Pkw über lange Strecken zu steuern. Luftverkehrsverbindungen existieren nur zwischen Großstädten auf langen Distanzen. Zum Beispiel ist die Distanz Berlin - Hamburg zu kurz; dort gibt es keine Flugangebote.
Fernbusverbindungen haben ihre Stärke auf kurzen und mittleren Distanzen, während auf langen Distanzen ihr Nachteil der deutlich höheren Reisezeit besonders stark zum Tragen kommt. Fernbusfahrten sowie Mitfahrgelegenheiten im Pkw sind nur für bestimmte Personengruppen eine relevante Option. Beide gelten als Billigangebote und sprechen insbesondere Jugendliche und Studierende sowie Senioren an. Dennoch hat die DB Fernverkehr AG auf die Liberalisierung des Fernbusmarktes im Jahr 2013 reagiert, indem sie ihre Servicequalität verbesserte (zum Beispiel kostenloses Internet im ICE) und verstärkt Sparpreise anbot. [BNetzA18a, S.27] Eine empirische Auswertung des Preissetzungsverhaltens der DB Fernverkehr AG im Jahre 2015 ergab, dass auf Strecken mit Fernbuswettbewerb mehr als viermal so viele Sparpreisangebote wie auf Strecken ohne Fernbusverbindungen angeboten wurden. [Grem19, S.154]
Zu berücksichtigen ist auch, dass der inländische Luftverkehr sowie der motorisierte Individualverkehr aus klimapolitischen Erwägungen zurückgedrängt werden sollen. Wenn dies gelingt, dann ist man umso mehr darauf angewiesen, dass sich in Zukunft der intramodale Wettbewerb auf der Schiene besser entwickelt.
So sieht das Bundes-Klimaschutzgesetz aus dem Jahr 2019 eine Reduktion der zulässigen Jahresemissionsmengen im Verkehr von 150 Millionen Tonnen CO2-Äquivalent im Jahr 2020 auf 95 Millionen Tonnen CO2-Äquivalent im Jahr 2030 vor. [KSG] Nach den Arbeitsgruppen des Zukunftsbündnisses Schiene sei eine entsprechende Reduktion gerade vor dem Hintergrund eines wachsenden Straßenverkehrs nur durch die Verkehrsverlagerung auf die Schiene möglich. [BMVI20ab] Die Europäische Union hat sich im Rahmen des europäischen Grünen Deals eine Reduktion der Treibhausemissionen im Verkehr um 90 Prozent bis 2050 zum Ziel gesetzt. Dabei soll die Schiene bei der Dekarbonisierung des Verkehrs eine zentrale Rolle einnehmen: Während der Verkehrssektor in der Europäischen Union für ein Viertel aller Schadstoffemissionen verantwortlich ist, sind nur 0,4 Prozent der Gesamtemissionen der Schiene zuzuordnen. [EuKo19a]