Marktsegment des nationalen Schienenpersonenfernverkehrs
Erstellt am: 01.04.2010 | Stand des Wissens: 16.12.2023
Synthesebericht gehört zu:
Ansprechperson
TU Dresden, Professur für Integrierte Verkehrsplanung und Straßenverkehrstechnik, Prof. Dr.-Ing. Regine Gerike
Mit über 2,9 Milliarden Mitfahrenden verzeichnete der Schienenpersonenverkehr (SPV) innerhalb der Bundesrepublik Deutschland 2019 das höchste Beförderungsaufkommen seit der Novellierung des Verkehrsstatistikgesetztes [VerkStatG] im Jahr 2004. Allerdings war von dieser Gesamtmenge lediglich etwa jeder 19. Reisende (151,4 Millionen) dem Schienenpersonenfernverkehr (SPFV) zuzurechnen, während rund 95 Prozent der Fahrgäste (2,78 Milliarden) im nationalen Schienenpersonennahverkehr (SPNV) befördert wurden [Dest21h, S. 68]. Mit Blick auf die Verkehrsleistung gestaltet sich das Verhältnis aufgrund unterschiedlicher Reisedistanzen naturgemäß wesentlich ausgeglichener. So erbrachte der SPFV im Jahr 2019 44,7 Milliarden Personenkilometer, was einem Anteil von rund 45 Prozent an der insgesamt im deutschen SPV erbrachten Beförderungsleistung entsprach (siehe Abbildung 1 und 2) [BMVI22b, S. 217 ff.; Dest21h, S. 68]. Im Jahr 2020 brachen sowahl das Verkehrsaufkommen als auch die Verkehrsleistung im SPV aufgrund der Corona-Pandemie ein.
![Abbildung 1: Verkehrsaufkommen des deutschen Schienenpersonenverkehrs; Aufteilung SPNV und SPFV 1999-2021 (eigene Darstellung nach [Eintrag-Id:565881, S.217 f.; Eintrag-Id:545427, S. 68]) Verkehrsaufkommen.png](/servlet/is/308238/Verkehrsaufkommen.png)
![Abbildung 2: Verkehrsleistung des deutschen Schienenpersonenverkehrs; Aufteilung SPNV und SPFV 1999-2021 (eigene Darstellung nach [Eintrag-Id:565881, S.219 f.; Eintrag-Id:545427, S. 68]) Verkehrsleistung.png](/servlet/is/308238/Verkehrsleistung.png)
Im Gegensatz zum SPNV ist der SPFV in Deutschland durch das Prinzip der Eigenwirtschaftlichkeit gekennzeichnet. Dementsprechend handelt es sich hierbei um einen Wettbewerb im Markt, der es zugelassenen Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU) ermöglicht, gemäß eigenen betriebswirtschaftlichen Erwägungen Zugtrassen frei zu buchen. Staatlich bestellte Verkehrsdienstleistungen, wie seit 1996 im deutschen SPNV üblich, finden sich in Bezug auf Fernverkehrsrelationen nicht.
Trotz des formal bestehenden Wettbewerbs verfügt die DB Fernverkehr AG gegenwärtig über eine Quasimonopolstellung im nationalen SPFV-Markt. Mit einem über die vergangenen Jahre stagnierenden Wettbewerbsanteil von weniger als ein Prozent konnten konkurrierende EVU bisher keine bedeutende Position erlangen. Bestehende, durch die Integration von Netz und Betrieb (integrierter Konzern) auf Seiten des Deutsche Bahn AG Konzern (DB AG) geförderte Diskriminierungspotenziale lassen Aussichten auf eine nachhaltige Marktbelebung in naher Zukunft trotz des Markteintritts des privatwirtschaftlichen Hamburg-Köln-Expresses (HKX) im Sommer 2012 und Locomores im Dezember 2016 weiterhin unsicher erscheinen. Beide Unternehmen wurden indessen in die FlixMobility GmbH eingegliedert [BDDI06, S. 92 f.].
Mit fast 1.400 Zugfahrten pro Tag und einer Gesamtflottenkapazität von circa 216.000 Sitzplätzen bindet die Fernverkehrssparte der DB AG über 200 in festen Taktfrequenzen angefahrene Systemhalte in ihr Beförderungsangebot ein [DBAG18c, S. 18 f.; Rühl07, S. 135]. Die Schienennetzbelastung des Schienenpersonenverkehrs (SPFV und SPNV) ist in Abbildung 3 dargestellt.
Der sich hieraus ergebende Flächenerschließungsgrad des nationalen SPFV bleibt zwar grundsätzlich hinter dem des Autobahnnetzes zurück, für einen Großteil der Bewohner Deutschlands, inklusive derjenigen außerhalb der größeren Städte, ist jedoch ein IC- oder ICE-Bahnhof innerhalb einer akzeptablen Zeitspanne erreichbar. Für 85 Prozent der Bevölkerung liegt ein Fernverkehrsbahnhof innerhalb 30 Minuten Pkw-Fahrzeit vom Wohnort entfernt. Innerhalb der Reisezeitschwelle von 60 Minuten Pkw-Fahrzeit können nahezu 100 Prozent der Bevölkerung einen Fernbahnhof erreichen. Schwieriger stellt sich jedoch die Situation bezüglich der Erreichbarkeit von Fernbahnhöfen mit dem öffentlichen Verkehr dar (Abbildung 4). [BBSR12b, S. 83 f.]
Im Hinblick auf eine Segmentierung des SPFV-Markts wird häufig der Reiseanlass als geeignetes Differenzierungskriterium herangezogen. Somit lässt sich grundlegend zwischen den Gruppen der Geschäfts- und Privatreisenden sowie der Pendler unterschieden. Perrey erweiterte diesen Betrachtungsansatz im Rahmen einer Studie über Bahnnutzer um eine sogenannte "Benefit Segmentation" (deutsch: nutzenorientierte Segmentierung), welche es erlaubte, die einzelnen Kundensegmente gemäß ihrer Nutzenpräferenzen detaillierter zu charakterisieren. Den Ergebnissen genannter Reiseanlass-Nutzensegmentierung folgend, stellten Privatreisende im Jahr 1998 rund 58 Prozent des Gesamtbeförderungsaufkommens im SPFV. 30 Prozent der Fahrgäste führten eine Geschäftsreise durch und zwölf Prozent erwiesen sich als Pendelnde Personen. Hinsichtlich der Nutzenkategorien konnte dokumentiert werden, dass mehr als die Hälfte aller SPFV-Reisenden (51 Prozent) eine primäre Preissensibilität aufwiesen, während 31 Prozent vordringlich geringe Reisezeiten als wesentliche Nutzenvorteile deklarierten und 18 Prozent in erster Linie Komfortfaktoren honorierten (Abbildung 5). [Perr98] (Weitergehende Forschungen im Bereich des Verkehrsdienstleistungsmarketings unter besonderer Berücksichtigung von SPFV-Angeboten wurden hierauf aufbauend unter anderem von Hunkel [Hunk01] und Grunberg [Grun04] durchgeführt.)
In Anbetracht des mittlerweile um einige Jahre zurückliegenden Untersuchungszeitraums soeben zitierter Studie und sich kontinuierlich verändernder Marktbedingungen sei allerdings angemerkt, dass die dargestellten Ergebnisse keine belastbaren Aussagen über aktuelle Nachfrageverhältnisse im SPFV ermöglichen. Auch die Corona-Pandemie beeinflusst die derzeitige Nachfrage [siehe MONO21]. Nichtsdestotrotz finden sich, unter anderem mangels öffentlich zugänglicher Quellen neueren Datums, auch in jüngsten wissenschaftlichen Veröffentlichungen Referenzen auf genannte Forschungserkenntnisse (vergleiche hierzu beispielsweise [MON09, S. 61; BrMi08], weshalb sie in diesem Rahmen Erwähnung finden.