Der Schienenpersonenfernverkehr im intermodalen Wettbewerb
Erstellt am: 01.04.2010 | Stand des Wissens: 20.01.2024
Synthesebericht gehört zu:
Ansprechperson
TU Dresden, Professur für Integrierte Verkehrsplanung und Straßenverkehrstechnik, Prof. Dr.-Ing. Regine Gerike
Auch wenn die absoluten Zahlen bis 2019 ein Wachstum der Personenverkehrsleistung im Schienenverkehr anzeigten [EUKO22a, S. 53], so haben die Bahnen, bezogen auf ihren Marktanteil, in den vergangenen Jahrzehnten doch einen erheblichen Bedeutungsverlust erfahren müssen. Das eigentliche Wachstum fand bei anderen Verkehrsträgern und hier insbesondere beim Straßenverkehr statt [EUKOM01, S. 37; EuKom06b]. Während die Schiene noch im Jahr 1970 einen Anteil von zehn Prozent an der europäischen Personenverkehrsleistung hatte, stieg dieser, nach einem Tiefstand von 6,5 Prozent im Jahr 2005, 2019 auf 7,0 Prozent, brach dann aber 2020 auf 5,1 Prozent ein [EUKO22a, S. 48]. Ein noch stärkerer Verlust konnte durch die Etablierung des Hochgeschwindigkeitsverkehrs (HGV) in Europa und den damit verbundenen Steigerungsraten auf langen Strecken vermieden werden. Zudem führte die in verschiedenen Mitgliedsstaaten betriebene Regionalisierung und Modernisierung des Schienenpersonennahverkehrs (SPNV) zu einem Anstieg der Zahlen der Mitfahrenden im Nahverkehr [EUKOM01, S. 37; EUKOM03l]. Dennoch wies seit 2005 der Luftverkehr eine höhere Verkehrsleistung als die Bahn auf, was sich jedoch 2020 wieder änderte (siehe Abbildung 1).
![Abbildung 1: Gesamtverkehrsleistung Nah- und Fernverkehr, Modal Split EU-27-Staaten 2019 2020 (eigene Darstellung nach [Eintrag-Id:545107, S. 48]) 308167_Abb_1_al_2020.png](/servlet/is/308167/308167_Abb_1_al_2020.png)
Der aus Sicht der Eisenbahnen negative Trend zeigt sich am Vergleich der jährlichen Wachstumsraten der einzelnen Verkehrsträger in Europa (siehe Abbildung 2). Wie auch alle Verkehrsträger außer dem PKW musste die Bahn hier negative Wachstumsraten, also eine Schrumpfung, hinnehmen. Im Jahr 2020 verzeichnete das Fahrgastaufkommen im Eisenbahnfernverkehr einen signifikanten Rückgang um 46,2 Prozent im Vergleich zum Vorjahr 2019, wobei die Corona-Krise maßgeblich für diese Entwicklung verantwortlich war [EEAG19]
Einen Vergleich des Modal Split im Landverkehr der einzelnen europäischen Länder zeigt die Abbildung 3. Die Bedeutung der schienengebundenen Verkehrsmittel gestaltet sich hiernach europaweit unterschiedlich. Die Inselstaaten Europas, nämlich Malta und Zypern, verfügen über keine Eisenbahnnetze.
![Abbildung 3: Modal Split im Landverkehr 2020 (Bahn: Fern/Regionalbahnen und städtischen Schienenverkehr, eigene Darstellung nach [Eintrag-Id:545107, S. 49]) 308167_Abb_3_al_2020.png](/servlet/is/308167/308167_Abb_3_al_2020.png)
Gemäß der prognostizierten Entwicklung ist keine Umkehr des beschriebenen Trends zu erkennen. Den Großteil des Zuwachses der Verkehrsleistung übernimmt weiterhin der Motorisierte Individualverkehr. Weitere Zuwächse sind auch im Luftverkehr zu verzeichnen, während das Wachstum bei der Bahn vergleichsweise moderat ist (siehe Abbildung 4).
Situation in der Bundesrepublik Deutschland: Bis zu Beginn der 1950er Jahre hatten die Bahnen im deutschen Personenfernverkehr eine Monopolstellung; der motorisierte Individualverkehr war aufgrund des geringen Pkw-Bestandes und des lückenhaften Fernstraßennetzes noch keine ernsthafte Konkurrenz. Die meisten Reisenden hatten demnach keine Wahlmöglichkeit. Die Bahn war die einzige Verkehrsmöglichkeit für diese so genannten "Captive Riders" (Reisende ohne Wahlmöglichkeit). Diese Situation änderte sich in den darauffolgenden Jahrzehnten vollständig. Die einsetzende Massenmotorisierung führte zu einem hohen Niveau der Pkw-Verfügbarkeit (siehe beispielweise [Stat570]). Diese Entwicklung wurde gefördert durch umfangreiche Straßenbauaktivitäten und günstige Treibstoffpreise. Gleichzeitig führte ein langanhaltendes Wirtschaftswachstum in Kombination mit wachsendem Realeinkommen zu einem neuen Anspruchsdenken hinsichtlich der Wohnqualität. Dies hatte Auswirkungen auf die Raumplanung, welche einen Trend zu verstärkter Ansiedlung von Industrie und Privathaushalten in ländlichen Räumen aufwies. Die hierfür notwendige Mobilität garantierte der eigene Pkw. [Scho88, S. 21; Müch90, S. 10 ff.; Dost00, S. 86]
Aufgrund vorgenannter Entwicklung schrumpfte der Modal Split-Anteil der Eisenbahn an der Gesamtverkehrsleistung im Personenverkehr seit Ende der siebziger Jahre in Deutschland auf ein konstant niedriges Niveau um die sieben Prozent. Betrachtet man die Zeit nach der Wende genauer, zeichnet sich für diesen Zeitraum ein leichtes Wachstum innerhalb dieses Bereichs ab (siehe Tabelle 1). Dieses erfolgte jedoch nicht kontinuierlich. Neben einem kleinen und kurzfristigen Einbruch 1994 brach der Anteil von 2001 mit 7,1 Prozent auf 6,6 Prozent im Folgejahr ein und konnte erst 2005 wieder den Wert von 2001 erreichen. In den Jahren nach 2005 lag der Modal Split-Anteil des Schienenverkehrs oberhalb der sieben Prozent-Grenze und stieg bis zum Jahr 2015 kontinuierlich auf einen Wert von 7,8 Prozent. [BMV93a; BMVBS12i, S. 220 f.]
![Tabelle 1: Entwicklung des Modal Split in Deutschland, Nah- und Fernverkehr (eigene Darstellung nach [Eintrag-Id:565881, S. 220 f.]) Tabelle_Verkehrsaufkommen_2023.png](/servlet/is/308167/Tabelle_Verkehrsaufkommen_2023.png)
Mechanismen der Verkehrsmittelwahl: Die Reisezeit ist der wichtigste Einflussfaktor in Bezug auf den erzielten Marktanteil eines Verkehrsträgers. Dies gilt insbesondere für den zentralen Wettbewerber Luftverkehr [EUKOMM06, S. 30]. Hauswald zeigt die Wettbewerbssituation zwischen Schienen-, Straßen- und Luftverkehr anhand der wichtigsten deutschen Fernrelationen auf. Die für jeden Verkehrsträger ermittelten Reisezeiten bildet er in einem Streudiagramm ab (siehe Abbildung 5). Verglichen werden tatsächliche Reisezeiten, wobei relationsspezifische Zeitzuschläge für Zu- und Abfahrten sowie Eincheckzeiten bei Flughäfen und Bahnhöfen berücksichtigt wurden. Der Vergleich erbrachte, dass auf lediglich 12 von 526 untersuchten Relationen die Bahn spürbar schneller ist als ihre Konkurrenten [Haus08, S. 195 f.].

Im Zusammenhang mit der Entwicklung des Modal Split ist auch die Entwicklung der Infrastrukturen der einzelnen Verkehrsträger zu sehen. So wuchs das europäische Autobahnnetz von 1990 bis 2019 um 86 Prozent, während das Eisenbahnnetz, bezogen auf die Betriebslänge, im selben Zeitraum um acht Prozent schrumpfte (siehe Tabelle 2). Die Änderungen bei der Eisenbahn sind jedoch differenzierter zu betrachten. Während die Reduzierung des Netzumfangs wesentlich aus der Stilllegung von nicht lukrativen, regionalen Strecken folgt, gibt es im überregionalen und internationalen HGV nennenswerte Infrastrukturerweiterungen. Das europäische HGV-Netz wuchs von 2.605 Kilometer im Jahr 1995 auf 11.526 Kilometer im Jahr 2020 (+ 442 Prozent) [EUKO22a, S. 81].